ENTSCHLIESSUNGSANTRAGzur Lage in Nicaragua
12.6.2023-()
gemäß Artikel 132 Absatz 2 der Geschäftsordnung
Tilly Metz, Saskia Bricmont, Hannah Neumann, Viola vonCramon‑Taubadel, Malte Gallée, Jordi Solé, Bronis Ropė, Francisco Guerreiro, Ignazio Corrao, Nicolae Ştefănuță
im Namen der Verts/ALE-Fraktion
Siehe auch den gemeinsamen ԳٲßܲԲԳٰRC-B9-0272/2023
9‑0273/2023
Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Nicaragua
()
Das Europäische Parlament,
–unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Nicaragua, insbesondere die Entschließung vom 9.Juni 2022 zur Instrumentalisierung der Justiz in Nicaragua zu Repressionszwecken[1] und die Entschließung vom 15.September 2022 zu Nicaragua, insbesondere der Verhaftung von Bischof Rolando Álvarez[2],
–unter Hinweis auf die Erklärung der Sprecherin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) vom 16.Februar 2023 zum Entzug der nicaraguanischen Staatsbürgerschaft von politischen Gegnern,
–unter Hinweis auf die Erklärung der Sprecherin des EAD vom 4.August 2022 zur Schließung von Radiosendern und zur Auflösung von Organisationen der Zivilgesellschaft in Nicaragua,
–unter Hinweis auf die Verordnungen und Beschlüsse des Rates über restriktive Maßnahmen gegen schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße in Nicaragua,
–unter Hinweis auf den Bericht der Gruppe der Menschenrechtsexperten für Nicaragua vom 2.März 2023,
–unter Hinweis auf KapitelIV.B über Nicaragua des Jahresberichts 2022 der Interamerikanischen Menschenrechtskommission,
–unter Hinweis auf die Pressemitteilung des US-Finanzministeriums vom 19.April 2023 über die Verhängung von Sanktionen gegen drei nicaraguanische Justizbeamte, die an Verletzungen der Menschenrechte beteiligt sind,
–unter Hinweis auf die Pressemitteilung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vom 19.August 2022 über die Unterdrückung und Verhaftung von Mitgliedern der römisch-katholischen Kirche in Nicaragua,
–unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln),
–unter Hinweis auf die Amerikanische Menschenrechtskonvention (Pakt von San José),
–gestützt auf das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits (Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Zentralamerika)[3],
–gestützt auf Artikel132 Absatz2 seiner Geschäftsordnung,
A.in der Erwägung, dass die VN-Gruppe der Menschenrechtsexperten für Nicaragua in ihrem dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im März 2023 vorgelegten Bericht zu dem Schluss kommt, dass das Ortega-Murillo-Regime weitverbreitete und systematische, politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen begeht, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber der Zivilbevölkerung darstellen, und die internationale Gemeinschaft aufgefordert hat, Sanktionen gegen die beteiligten Institutionen und Einzelpersonen zu verhängen;
B.in der Erwägung, dass es sich bei den seit April 2018 begangenen Menschenrechtsverletzungen und -verstöße nicht um ein isoliertes Phänomen handelt, sondern vielmehr um das Ergebnis eines dynamischen Prozesses, der darauf abzielt, die Gewaltenteilung und die demokratischen Garantien aufzuheben und die Macht vollständig in den Händen des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Republik Nicaragua zu konzentrieren;
C.in der Erwägung, dass das Ortega-Murillo-Regime am 9.Februar 2023 222 politische Gefangene freigelassen und in die Vereinigten Staaten abgeschoben hat, wobei das Regime sie als „Verräter“ bezeichnete, ihnen die Staatsbürgerschaft entzog, die meisten von ihnen staatenlos machte und ihr Vermögen einzog; in der Erwägung, dass weiteren 94 Personen ihre Staatsbürgerschaft entzogen wurde und sie zu „Verrätern“ und „Gesetzesflüchtlingen“ erklärt wurden;
D.in der Erwägung, dass Bischof Rolando José Álvarez Lagos von Matagalpa am 10.Februar nach seiner Weigerung, Nicaragua zusammen mit den anderen 222 inhaftierten politischen Gefangenen zu verlassen, während einer Gerichtsverhandlung in Managua ohne ordnungsgemäßes Verfahren zu mehr als 26 Jahren Haft verurteilt wurde; in der Erwägung, dass ein Richter des Berufungsgerichts von Managua ebenfalls ankündigte, dass Bischof Álvarez mit einer Geldstrafe belegt und ihm die nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen werden würde;
E.in der Erwägung, dass das Amt zur Kontrolle ausländischer Vermögenswerte des US-Finanzministeriums am 19.April drei nicaraguanische Justizbeamte benannt hat, die an Menschenrechtsverletzungen durch das Regime des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und an der allgemeinen Unterdrückung nicaraguanischer Bürgerinnen und Bürger, die sich seinem Regime widersetzen, beteiligt sind; in der Erwägung, dass es sich bei den drei benannten Personen um Richter oder vorsitzende Richter des Bezirksberufungsgericht von Managua, des Zweiten Bezirksgerichts in Managua und des Ersten Strafberufungsgerichts von Managua handelt; in der Erwägung, dass diese Gerichte Entscheidungen bestätigt haben, mit denen mehr als 300 nicaraguanischen Bürgerinnen und Bürgern die Staatsbürgerschaft entzogen wurde;
F.in der Erwägung, dass das nicaraguanische Regime in den letzten Jahren einen zunehmend repressiven Regelungsrahmen angenommen hat; in der Erwägung, dass die anhaltende Verschlechterung der Menschenrechte sowie der bürgerlichen und politischen Rechte vor dem Hintergrund systematischer Verfolgung, Kriminalisierung, Schikanierung, polizeilicher Verfolgung und allgemeiner Repressionen gegen Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und andere Personen, die abweichende Meinungen gegenüber dem nicaraguanischen Regime zum Ausdruck bringen, stattfindet;
G.in der Erwägung, dass die Angriffe auf die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zugenommen haben, einschließlich der Drohungen der Staatsanwaltschaft gegen mehrere Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und religiöse Würdenträger, was viele dazu veranlasst hat, Nicaragua zu verlassen, um internationalen Schutz nachzusuchen;
H.in der Erwägung, dass das nicaraguanische Regime seit April 2018 mehr als 3300 gemeinnützige Organisationen und Stiftungen, darunter Frauenorganisationen und Organisationen mit Bezug zur katholischen Kirche, aufgelöst und mehreren Universitäten den Rechtsstatus entzogen hat, um abweichende Meinungen von Studierenden zu unterdrücken;
I.in der Erwägung, dass die Zahl der Nicaraguaner, die infolge der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise sowie der Menschenrechtskrise in andere Länder auswandern, im Jahr 2022 zugenommen hat; in der Erwägung, dass seit 2018 mehr als 192000 Nicaraguaner entweder als Asylbewerber oder als Flüchtlinge nach Costa Rica geflohen sind; in der Erwägung, dass durch diesen Trend das Asylsystem Costa Ricas untergraben und die Unterstützungsnetze in dem Land überlastet werden könnten;
J.in der Erwägung, dass Aufbau und Festigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten feste Bestandteile des außenpolitischen Handelns der EU sind, die im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Zentralamerika von 2012 genannt sind;
1.verurteilt die systematische Unterdrückung und die willkürlichen Inhaftierungen von Mitgliedern der Opposition, Studierenden, Organisationen der Zivilgesellschaft und religiösen Würdenträgern in Nicaragua;
2.betont, dass das Justizwesen Nicaraguas nicht unabhängig von der Exekutive ist; äußert sich besorgt über die Anwendung des Strafrechts zur Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner, zur Unterdrückung jeglicher Kritik oder Opposition und zur Kriminalisierung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte, wie etwa der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, sowie der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte;
3.verurteilt, dass mindestens 317 Personen willkürlich ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde; fordert das Regime in Nicaragua nachdrücklich auf, für den uneingeschränkten Zugang zum Recht auf Staatsbürgerschaft und dessen Wahrnehmung zu sorgen und Maßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung der Staatenlosigkeit zu ergreifen; fordert das nicaraguanische Regime mit Nachdruck auf, die Familienzusammenführung sicherzustellen, indem es die Ausstellung und Validierung grundlegender amtlicher Dokumente erleichtert, damit die von den Verstößen betroffenen Personen ihre Staatsbürgerschaftsrechte wahrnehmen können; fordert das Regime in Nicaragua nachdrücklich auf, die gerichtlichen Verfahren gegen die aus der Haft entlassenen und ins Exil verbannten Personen einzustellen, ihre Strafregister zu löschen und die Verfolgung ihrer Angehörigen zu beenden;
4.fordert die unverzügliche Freilassung aller Personen, die willkürlich ihrer Freiheit beraubt wurden; fordert das nicaraguanische Regime auf, seine politisch motivierten Verfolgungen, einschließlich der Kriminalisierung und willkürlichen Inhaftierung, des willkürlichen Entzugs der Staatsbürgerschaft und der Zwangsdeportation, unverzüglich einzustellen;
5.fordert, dass die seit 2018 verabschiedeten restriktiven Gesetze, durch die der zivilgesellschaftliche und demokratische Raum unzulässig eingeschränkt wird, aufgehoben werden; fordert das nicaraguanische Regime insbesondere auf, die jüngsten Gesetzesänderungen, die gegen die geltenden internationalen und interamerikanischen Normen verstoßen, aufzuheben, umfassende Wiedergutmachung und Entschädigung zu leisten und Garantieren dafür, dass sich das Vergangene nicht wiederholt, einzuführen;
6.bringt seine Besorgnis über das Leben und die körperliche und seelische Unversehrtheit der 47 verbleibenden politischen Gefangenen zum Ausdruck, insbesondere für diejenigen, die in der Haft Misshandlung erfahren, die möglicherweise als Folter anzusehen ist; ist zutiefst besorgt über die Lage der weiblichen Gefangenen, die aufgrund ihres Geschlechts zusätzlichen Aggressionen ausgesetzt sind; hebt die zunehmende Einschüchterung und Aggression sowie die Misshandlung von Angehörigen der Gefangenen, insbesondere während der Besuchszeiten, hervor; weist darauf hin, dass Nicaragua die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen einhalten muss;
7.verurteilt aufs Schärfste die zunehmenden rechtlichen Beschränkungen des zivilgesellschaftlichen Raums und abweichender Meinungen in Nicaragua, die in einem weitreichenderen Kontext der zunehmenden Polarisierung und eines Klimas der Einschüchterung und Bedrohung im Land stattfinden; verurteilt die Praxis schwerwiegender Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte, insbesondere die besorgniserregende Zunahme von Einschüchterungen, Stigmatisierungen, Drohungen, Einziehungen von Vermögenswerten und willkürlichen Festnahmen, die gegen Oppositionsparteien, Journalisten und sonstige Medienschaffende, Studierende, indigene Völker, Menschenrechtsverteidiger und religiöse Würdenträger im Land gerichtet sind;
8.fordert das nicaraguanische Regime auf, das Leben und die Unversehrtheit der in Nicaragua verbleibenden Menschenrechtsverteidiger, unter anderem auch von Vilma Núñez de Escorcia, zu garantieren;
9.hebt die Schlüsselrolle hervor, die die Zivilgesellschaft, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und religiöse Würdenträger in Nicaragua spielen; fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen und willkürlichen Inhaftierungen in dem Land Unterstützung zur Verfügung zu stellen und Maßnahmen zu ergreifen und Programme durchzuführen, die darauf abzielen, die Sicherheitslage aller im Exil lebenden Personen, einschließlich der derzeit staatenlosen Personen, denen ihre Staatsbürgerschaft entzogen wurde, zu verbessern;
10.fordert das Regime in Nicaragua auf, seine Strategie der Abschottung gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu beenden und internationalen Organisationen, darunter die Interamerikanische Menschenrechtskommission und das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, umgehend die Rückkehr in das Land zu gestatten, damit sie die Menschenrechtslage überwachen können;
11.fordert das nicaraguanische Regime auf, die in dem Bericht der VN-Gruppe der Menschenrechtsexperten für Nicaragua ausgesprochenen Empfehlungen sowie die Empfehlungen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte umzusetzen; fordert die nicaraguanischen Institutionen auf, die Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße aufzuheben und den Opfern Zugang zur Justiz und vollständige Wiedergutmachung zu gewähren;
12.fordert das nicaraguanische Regime auf, einen alle Seiten einbeziehenden nationalen Dialog einzuleiten, um eine friedliche und demokratische Lösung der politischen, sozialen und Menschenrechtskrise zu finden; fordert die Staatsorgane Nicaraguas auf, legislative und politische Maßnahmen zu ergreifen, um die demokratischen Grundsätze und die Trennung von Exekutive, Legislative, Wahlen und Judikative sicherzustellen;
13.fordert die EU auf, das nicaraguanische Regime, insbesondere seine Richter, dringend für die Unterdrückung im Land und die gegen Oppositionelle, deren Angehörige, andere kritische Stimmen und führende Mitglieder der Gesellschaft eingeleiteten Gerichtsverfahren zur Rechenschaft zu ziehen; fordert den Rat auf, unverzüglich das Verfahren zur Aktualisierung der Liste der von der EU sanktionierten Einzelpersonen einzuleiten;
14.fordert die EU auf, im Wege ihres auswärtigen Handelns und des Dialogs weiterhin die Förderung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichheit und der Medienfreiheit zu priorisieren und mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um den Dialog, die Demokratie und die Menschenrechte in Nicaragua zu schützen;
15.unterstützt die Bemühungen der Delegationen der EU in Nicaragua und Costa Rica, die Entwicklungen in Nicaragua genau zu überwachen und in diesem Zusammenhang unter anderem Gerichtsverfahren zu beobachten und Oppositionsführer und Regierungskritiker, die in Haft sind oder unter Hausarrest stehen, zu besuchen;
16.fordert die Kommission, den EAD und die Mitgliedstaaten auf, die Mitglieder der Opposition Nicaraguas, die sich noch im Land befinden, sowie die derzeit im Exil lebenden Mitglieder stärker zu unterstützen;
17.fordert die Kommission, den EAD und die Mitgliedstaaten auf, die Länder, die eine erhebliche Zahl von vor dem nicaraguanischen Regime fliehenden Migranten aufnehmen, insbesondere Costa Rica, stärker zu unterstützen, um die Stabilität in der Region zu erhalten;
18.fordert die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, dass mit ihren Kooperationsinstrumenten ihre Unterstützung für die Zivilgesellschaft, insbesondere die Menschenrechtsverteidiger, verstärkt wird und dass sie auf keine Weise zu der derzeitigen Unterdrückungspolitik der nicaraguanischen Staatsorgane beitragen;
19.beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika, dem Zentralamerikanischen Parlament sowie der Regierung und dem Parlament der Republik Nicaragua zu übermitteln.